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Aktion „Stottern und Schule"

by Sara Hoelscher
from Germany

Vom 2.-5. Mai 2000 organisierte die Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe eine Bustour durch verschiedene Städte Deutschlands um gezielt Lehrer, Schüler und Öffentlichkeit über das Problem Stottern aufzuklären.

In Schulen werden stotternde Schüler oft massiv benachteiligt.

- Sie haben keine Möglichkeit ihr Wissen und Können voll zu entfalten.

- Sie besuchen nicht die Schule, die ihrer Begabung entspricht.

- Ihre Sprechbehinderung wird nicht bei der Benotung mündlicher Leistungen und in Prüfungen berücksichtigt.

Diese Benachteiligungen beruhen zum größten Teil auf dem Mangel an Wissen der Lehrer und dem Fehlen von Informationen.

Ich, Sara Hölscher, 17 Jahre, habe selber unter Benachteiligungen gelitten. Sechs Jahre habe ich eine Schule besucht, die nicht meiner Begabung entspricht, da Lehrer meinen Eltern damals geraten hatten mich aufgrund meines Stotterns eine Sprachheilschule besuchen zu lassen, obwohl meine Noten den Besuch eines Gymnasiums zugelassen hätten.

Den Rat der Lehrer folgten meine Eltern nicht, sie schickten mich aber doch lieber zur Realschule.

Seit dem letzten Jahr besuche ich nun endlich ein Gymnasium.

Jetzt fühle ich mich bedeutend wohler, da ich nun meinen Leistungen entsprechend gefordert werde.

Die Bustour war eines der Projekte der Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe zum Thema „Stottern und Schule".

In den letzten Jahren organisierte die BV z.B. auch Plakataktionen und Interdisziplinäre Fachtagungen, auch ein Lehrerratgeber wurde herausgebracht.

Die Kampagne fand im Rahmen der „Aktion Grundgesetz 2000" und des Europäischen Protesttages zur Gleichstellung behinderter Menschen statt.

„Aktion Grundgesetz 2000" ist ein Projekt der Organisation „Aktion Mensch".

„Aktion Mensch" ist die bedeutendste Organisation, die sich für behinderte Menschen einsetzt.

Gemietet wurde für das Busprojekt ein knallroter englischer Doppeldeckerbus.

An den Seiten wurden grüne Plakate mit dem Motto „Stottern und Schule" und dem Logo der BV angebracht.

Ein für uns wichtiger Punkt war damit abgehakt: Auffälligkeit!

Kein vorübergehender Passant, kein vorbeifahrender Autofahrer konnte den Bus übersehen, der insgesamt eine Strecke von 1300km zurückgelegt hat.

Somit wurden viele Leute unbewusst mit dem Stottern konfrontiert.

Die Bustour, durch die Städte Köln, Münster, Hamburg, Potsdam und Berlin, war für mich ein einmaliges Erlebnis.

An die fünf Tourtage kann ich mich noch gut erinnern:

Am 2. Mai stand der Bus mittags schon voll beladen mit Infomaterialien, Stellwände, Plakate, etc. abfahrbereit vor der Geschäftsstelle der BV in Köln.

Sieben Stotterer bildeten die Crew des Busses, sie waren ständige Begleiter.

Wir hatten uns alle in der BV versammelt, um die letzten Fragen und Probleme zu klären.

Aufgeregt waren wir alle, als sich der Bus dann endlich mit uns einen Weg durch die engen Straßen der Kölner Innenstadt zur Fußgängerzone bahnte, wo sogleich unserer Premiere stattfinden sollte.

Angekommen in der Fußgängerzone bauten wir sofort und schon fast professionell die Gasflasche für die grünen Aktions-Luftballons, die Info-Tische, Stellwände, Faltblätter, Broschüren und Plakate auf.

Jedes Crewmitglied trug ein grünes T-Shirt —vorn bedruckt mit dem Logo der BV, hinten mit dem Schriftzug der Aktion Grundgesetz-, um auffälliger zu sein, damit die Passanten nicht ohne einen Blick auf unsere Kampagne zu werfen an uns vorbeigehen konnten.

Große Unterstützung bekamen wir in jeder Stadt von der örtlichen Selbsthilfegruppe.

Zum Dank erhielt jede helfende Hand ein grünes T-Shirt.

In Köln hatten wir drei Stunden Zeit Aufklärungsarbeit zu leisten.

Anfangs war es gar nicht so einfach Passanten anzusprechen, die altbekannte Angst schlich sich doch wieder ein, bei dem Einen mehr bei dem Anderen weniger.

Nach einiger Zeit war es für uns aber schon fast Routine Leute anzusprechen, so dass die Angst wieder verschwand und damit ein weiteres Mal besiegt war.

Ich selber hatte keine große Angst vorm Ansprechen der Leute. Es war sogar interessant die vielen unterschiedlichen Reaktionen der Leute zu beobachten und verschiedene Ansprechmöglichkeiten auszuprobieren.

Da ich zu dem Zeitpunkt der Tour sehr flüssig Sprechen konnte, habe ich sehr viel pseudo- gestottert, um Passanten mit dem Stottern direkt zu konfrontieren.

Denn wie sollen sie anders lernen sich mit einem Stotterer „normal" zu unterhalten?

Die Reaktionen der Passanten auf unsere Aufklärungsversuche spiegelten die gewohnte Bandbreite wider. Von „Stottern und Schule, was ist das?" bis zu Betroffene, die sich wie ertappt gaben. Von „Interessiert mich nicht", bis zu Eltern, die sich auf lange Gespräche einlassen.

In den Gesprächen klärten wir, das Stottern eine Sprechbehinderung ist und nichts mit Intelligenz zu tun hat.

Anhand von prominenten Stotterern erklärten wir, dass auch Stotterer ein erfolgreiches Berufsleben haben können.

Wichtig war auch zu erwähnen, dass der Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" im Grundgesetz, Artikel 3, Absatz 3 verankert ist.

Die grobe Richtung des Gesprächs bestimmten weiterführend die Passanten, wir passten uns dann ihren Interessen an.

In jede Stadt luden wir einen stotternden Prominenten ein, um mehr Presse anzulocken.

In Köln war es ein Physikprofessor, der uns Zeitungsreporter, aber leider nicht das Fernsehen anlockte.

Der erste Nachmittag neigte sich schnell dem Ende zu. Wir waren alle überrascht, wie schnell die Zeit vergangen war. Wir bauten die Infostände ab, verstauten alles im Bus und los ging die Fahrt nach Münster, in die nächste Stadt.

Angenehm war die Fahrt leider nicht!

Zuerst war es ein tolles Gefühl in einem englischen Bus zu sitzen. Oben und unten waren sehr schöne Sitzgelegenheiten, doch während der Fahrt war es unten zu laut (Motor), um sich zu unterhalten und oben zu wackelig, um etwas zu lesen.

Doch man kann sich schließlich an alles gewöhnen.

Mit dem ersten Tag waren wir alle sehr zufrieden, wir hatten es geschafft viele Leute über Stottern aufzuklären und waren schon voller Vorfreude auf den kommenden Morgen, denn da sollte unser erster Schulbesuch stattfinden.

Alle Schulen, die wir anfuhren, wussten von unserem Kommen.

Die Mitarbeiter der BV hatten vorher viele Schuldirektoren angerufen und gefragt, ob sie Interesse an unserem Kommen hätten. Dies war eine langwierige Arbeit!

Begeistert waren nur zwei Schuldirektoren von dem Projekt.

Froh waren die Mitarbeiter darüber, dass einige Direktoren bereit waren uns in den Schulpausen zu empfangen.

Nach der Übernachtung in einem Hotel in Münster kamen wir pünktlich an der ersten Schule an. Es war ein Gymnasium. Dort erwartete uns schon die erste Panne.

Der Bus konnte aufgrund einer Überdachung nicht auf den Pausenhof fahren.

Also trugen wir alle Infostände und Materialien auf den Schulhof und ließen unser interessantestes Objekt, den Bus, auf einem Parkplatz stehen.

Zwei Leute unserer Crew suchten sogleich den Schulleiter auf, um ihm Infomaterialien und einen Lehrerratgeber zu überreichen.

Das Gymnasium gilt als Elite-Gymnasium und möglicherweise lässt sich damit erklären, dass der Schul-Rektor auf Anfrage sagte, es gebe bei ihnen auf der Schule keine Schüler mit Sprachstörungen.

In der Pause fragten wir dann Schüler nach stotternden Mitschülern.

Es gibt welche, nach Auskunft, doch sie ließen sich nicht blicken.

Jüngere Schüler (12,13 Jahre) stellten uns viele Fragen zum Thema Stottern. Wir erzählten ihnen dann von unseren Erlebnissen aus unserer Schulzeit.

Lehrer zeigten jedoch kein Interesse, nur die Pausenaufsicht ließ sich in kleinere Gespräche verwickeln.

Schnell war die Pause vorbei und der Bus setzte sich in Richtung nächster Schule in Bewegung. Es war diesmal eine Realschule.

Hier verlief alles reibungslos.

Wir wurden sogar schon von der Vertrauenslehrerin erwartet, die einen Schüler vorstellte, der uns offen von seinem Stottern erzählte und von den gelegentlichen Hänseleien seiner Mitschüler. Der Zuspruch war sehr rege.

Eine weitere Schülerin sprach freimütig und ohne Scheu über ihr Stottern. Sie schien damit gut umgehen zu können.

Dankbar waren die Lehrer über den Hinweis, dass es in fast jeder Prüfungsordnung der einzelnen Bundesländer Nachteilsausgleich für Schüler mit Behinderungen gibt.

Die grünen Luftballons und die Ratespiele, die ein sehr aktives Mitglied der Münsteraner Selbsthilfegruppe entwickelt hatte, fanden hier großen Anklang.

Von 13-18 Uhr standen wir am Nachmittag auf einem öffentlichen Platz in Münster.

Dort fanden wir nicht viel Zuspruch.

Die Münsteraner Selbsthilfegruppe hatte sich viele Lieder und Aktionen ausgedacht, um viel Aufmerksamkeit zu erregen, doch leider ohne großen Erfolg.

Ein wenig enttäuscht vom Nachmittag des zweiten Tages ging die Fahrt weiter nach Hamburg. Auf halber Strecke übernachteten wir in einem Motel und morgens ging die Fahrt zeitig weiter, um pünktlich an der nächsten Schule anzukommen.

Gegen 11 Uhr trafen wir an der Schule ein. Es war ein Gymnasium.

Zwei Crewmitglieder suchten sogleich den Schuldirektor auf, doch er war unauffindbar.

Er schien unser Kommen vergessen zu haben.

Das hielt uns aber nicht davon ab die Infostände aufzubauen um die Schüler über Stottern zu informieren. Reges Interesse hatten die Schüler nicht, Jüngere waren nur von den Luftballons begeistert.

Drei angehende Lehrer meldeten Interesse an, verschwanden aber nach wenigen Minuten zurück in Richtung Lehrerzimmer. Wir hofften mehr Erfolg in der nächsten Schule zu haben.

In der nächsten Schule einer Integrativen Grund-, Haupt- und Realschule stießen wir zum Glück auf mehr Interesse.

Hier suchten besonders Mütter Beratung.

Schwerer war es aber mit den Schülern ein Gespräch zu beginnen, da sie noch sehr jung waren und die Problematik noch nicht richtig verstehen konnten.

Die älteren Schüler hatten noch Unterricht, so dass wir keine Gelegenheit hatten uns mit ihnen zu unterhalten.

Um 14 Uhr trafen wir dann an einem öffentliche Platz direkt neben dem Bahnhof ein.

Dort erwartete uns schon ein Kamerateam und Ruth Heap, die Geschäftsführerin der BV.

Sie kam aus Köln nachgereist, um die letzten drei Tage mitzuerleben.

In Hamburg hatten wir den größten Auftrieb an Pressevertrern.

Sehr beliebt war der Schauspieler Andreas Brucker. Andreas Brucker unterhielt und stritt sich 1 _ Stunden über das Stottern mit Passanten und der Presse.

Er ist leider der einzige Prominente Stotterer in Deutschland, der sich zum Stottern bekennt und sich dafür einsetzt, dass Stottern immer mehr in der Gesellschaft akzeptiert wird.

Mit Passanten kamen wir sehr viel in Kontakt.

Wir hatten lange Gespräche mit Betroffenen, mit Eltern stotternder Kinder und auch mit Therapeuten.

Die Aufklärungsarbeit machte uns allen soviel Spaß, dass wir Zeit und Hunger völlig vergaßen.

Am frühen Abend brachen wir dann schon in Richtung Potsdam auf.

Nach einigen Stunden Fahrt fanden wir ein schönes Landhotel, in dem wir den Abend mit einem Abendessen ausklingen ließen.

Klar war für uns, dass der Nachmittag in Hamburg ein Höhepunkt der ganzen Tour war!

Mit ein wenig Verspätung kamen wir am kommenden Tag an einer Gesamtschule in Potsdam an. Hier erwarteten Lehrer und Schüler uns schon ungeduldig.

Es war ein tolles Gefühl hier zu stehen!

Einige Leute unserer Crew stellten sich vor und berichteten von ihren verschiedenen Erlebnissen aus ihrer Schulzeit. Anschließen kamen viele Fragen, die auf Neugier und Anteilnahme wiesen.

Danach mussten wir leider schnell einpacken, da uns die nächste Schule, eine Grundschule, auch schon erwartete.

Hier fanden wir sogar noch größeren Zuspruch.

Schüler zwischen elf und dreizehn Jahren hingen uns regelrecht an den Lippen und stellten viele, viele Fragen.

Das Lehrpersonal betonte, wie überzeugend es war, wenn sich so unterschiedliche Stotternde mit ihrer unterschiedlichen Sprechsymptomatik vorstellten.

Es folgte ein Quiz mit Fragen zum Stottern. Den Hauptpreis, ein Fußball, gewann ein Schüler, der —wie sich herausstellte- auch mit Stottern zu tun hat.

Unsere letzte Station an diesem Tag war die Potsdamer Fußgängerzone.

Es war Behindertentag und wir standen inmitten von Ständen anderer Selbsthilfegruppen.

Am Bus fanden sich einige Vertreter der Lokalpresse ein, was uns sehr freute, da der Zusprach der Öffentlichkeit nicht besonders groß war.

Die zwei Schulbesuche in Potsdam waren die Höhepunkte der Tour, da dort der Erfolg am deutlichsten zu sehen war.

In Berlin besuchten wir keine Schule, da Wochenende war. Morgens um 10 Uhr starteten wir eine kleine Stadtrundfahrt. Wir fuhren verschiedene Plätze an und mischten uns mit ausreichend Broschüren in der Hand unter das Volk.

Nachmittags fuhren wir einen sehr belebten Platz an, wo wir den Rest des Tages verbrachten.

Es kamen viele Kontakte zustande.

Dipl.-Psychologe und Stotterertherapeut Wolfgang Wendlandt, sehr bekannt in Deutschland, unterstützte uns tatkräftig bei der Aufklärungsarbeit.

Mit der Rückreise des Busses gegen 18 Uhr nach Köln ging unsere interessante und erfahrungsreiche Aktionswoche zu Ende.

Wie waren uns einig, dass die Infobus Tour „Stottern und Schule" neue Impulse in das öffentliche Bewusstsein gesetzt hat.

Die Aktion hat gezeigt, wie wichtig sie war und wie dringend Informationen übers Stottern gebraucht werden.

Wiederholt werden soll ein Projekt dieser Art unbedingt.

Es wird aber abhängig von Sponsoren sein, wann und in welchem Rahmen solche erfolgreichen Aktionen stattfinden können.

Bei der nächsten Aktion dieser Art wird das Begleitteam aber nicht im Bus mit drin sitzen, sondern in privaten Pkws voraus fahren, da die Fahrt im Bus zu anstrengend ist und im Bus keine Möglichkeiten sind in Ruhe über Verbesserungen, etc., reden zu können.

Der große Erfolg dieser Bustour „Stottern und Schule" zeigt sich mir, wenn ich an die Schulsituation in Potsdam zurückdenke. Es standen 100 Kinder mit großen Augen um uns herum. Sie stellten uns viele Fragen, viele einfache Fragen, wie z.B: "Hattest du auch Freunde?". Aber gerade diese simplen Fragen zeigten uns, dass sie sich Gedanken über das Problem Stottern machen und, dass in ihnen das Bewusstsein heranwächst, dass Stottern nur eine langsame, verzögerte Art des Sprechens ist.

Ihnen wurde auch klar, dass alle behinderten Menschen gleichwertige Menschen sind, wie sie selber.


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September 1, 2000